A. Dietze u.a. (Hrsg.): Urban Popular Culture and Entertainment

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Titel
Urban Popular Culture and Entertainment. Experiences from Northern, East-Central, and Southern Europe, 1870s–1930s


Herausgeber
Dietze, Antje; Vari, Alexander
Erschienen
New York 2023: Routledge
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
£ 120.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Schweitzer, Lehrstuhl für Fennistik, Institut für Fennistik und Skandinavistik, Universität Greifswald

Die Geschichte der Populärkultur wird häufig entlang eines Kanons berühmter Etablissements in Weltmetropolen erzählt. Zu diesem Ansatz liefert der vorliegende Sammelband eine Gegenperspektive: Antje Dietze und Alexander Vari heben in ihrem einleitenden Essay auf eine transnationale Perspektive ab, die „emerging cities“ in den Fokus rückt und das traditionelle Bild einer westeuropäischen (und, so wäre zu ergänzen, nordamerikanischen) Hegemonie einer Neubewertung zu unterziehen antritt (S. 2–3). Das Inhaltsverzeichnis macht sogleich bewusst, welche interessanten Entwicklungen am Rande oder jenseits prominenter kulturhistorischer Blickfelder damit beleuchtet werden. Entscheidend für das Gelingen einer solchen Kompilation ist allerdings, dass nicht allein Namen, Programme und Archivfunde zusammengetragen werden – so aufschlussreich diese Daten für sich genommen oft sein mögen – sondern dass ein roter Faden durch das divergente Material führt.

Es sei vorweggenommen, dass dies in dem vorliegenden Band überwiegend sehr überzeugend der Fall ist – den meisten Beiträgen gelingt es, Detailgenauigkeit und Quellentiefe mit einer stringenten Darstellung und, bei aller Wissenschaftlichkeit, auch attraktiv erzählenden Haltung zu kombinieren. Die Wahl des kulturgeschichtlich fluiden Zeitraums zwischen 1870 und 1930 in Kombination mit dem Schwerpunkt auf transnationalem Austausch – wenngleich beschränkt auf europäische Schauplätze – und der übergreifenden Idee, Städte von zwar im Weltmaßstab nachgeordneter, aber regional prägender Bedeutung zu betrachten, bildet einen stabilen Rahmen, so dass der Band nicht in ein Sammelsurium zerfällt.

Die Unterteilung in zwei Großkapitel – „Mobilities, Networks and Cultural Transfers“ sowie „Social Impacts, Official Regulations, and Nation Building“ – erscheint hingegen nur bedingt zwingend, da die darin zusammengefassten Aspekte eigentlich für jeden der untersuchten Bereiche in je unterschiedlicher Gewichtung relevant sind. Der Lesefluss wird ein wenig dadurch gestört, dass sich in den Endnoten der einzelnen Artikel sowohl Literatur- und Quellennachweise als auch ergänzende Bemerkungen finden, so dass man bisweilen in der Erwartung einer interessanten Hintergrundinformation dorthin blättert, dann aber lediglich einen Literaturnachweis findet. Hier wären Fußnoten vermutlich die praktischere Lösung gewesen. Dafür erlaubt ein Personen- und Sachregister die Suche nach Querverbindungen zwischen den unterschiedlichen Bereichen.

„Mobilities and National Indifference“, der Haupttitel von Susanne Korbels Artikel über die Populärkultur in der Habsburger Doppelmonarchie um 1900, könnte als Motto für den gesamten Band dienen. Die Autorin legt dar, dass nationale und ethnische Zugehörigkeiten im Verhältnis zur kulturellen Pluralität im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn wenig ins Gewicht fielen, wenn es darum ging, mit einem künstlerischen Profil ein Publikum zu erreichen. Dies galt vor allem für jüdische Akteurinnen, die als „supranational“ wahrgenommen wurden (S. 31). Korbels Befunde dürften verallgemeinerbar sein – so zeigt sich etwa am kulturellen Leben im Budapest der untersuchten Zeitspanne wie unter dem Brennglas, dass vermeintliche Nationalitätenprobleme erst von Kräften mit einer entsprechenden Agenda konstruiert werden mussten, um sie dann mit zusehends nationalistisch-chauvinistischen Abgrenzungsbestrebungen lösen zu wollen. Das Englisch des Artikels wirkt im Vergleich zu den anderen Texten stellenweise etwas unelegant.

Alexander Vari wählt eine fokussierte Perspektive, nämlich die Einflüsse der französischen Chansons von Yvette Guilbert auf den ungarischen sanzon – die Transformation des Genres realisierte sich also auch in einer etymologisch adaptierten Bezeichnung – für den er Vilma Medgyaszay und Janka Sólyom als Protagonistinnen vorstellt. Auch hier wird deutlich, in welch scharfem Kontrast der xenophobe ungarische Nationalismus zur florierenden multilingualen, -ethnischen und -kulturellen Realität stand, wenn Vari etwa zitiert, wie schon der Besuch eines Konzertes der Guilbert von Teilen der Presse gleichsam als Akt des Vaterlandsverrats geschmäht wurde (S. 145).

Nur ein Beitrag des Bandes verlässt die Metropolen der jeweils betrachteten Länder: Nuppu Koivisto-Kaasik und Saijaleena Rantanen zeigen anhand der Aktivitäten von Damenkapellen in Wiborg (finnisch Viipuri) – die Stadt konnte im untersuchten Zeitraum durchaus einen Rang direkt hinter der Hauptstadt Helsinki beanspruchen – wie sich ein internationales Phänomen im Kontext regionaler Spezifika entfaltete. Dass hier das kulturelle Leben der kleinen jüdischen Gemeinschaft Finnlands und ein Feld beruflicher Verwirklichung von Frauen zusammenfielen, rückt das Thema in eine breitere Perspektive. (Ein zufälliger Fehlerfund sei, wenngleich „off-topic“, angemerkt: die einzige Sinfonie des Wiborgers Ernst Mielck steht in f-Moll, nicht F-Dur [S. 59].)

Während alle anderen Artikel eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren eher kursorisch vorstellen, lässt Rikard Hooglands Einzelporträt des schwedischen Theatermannes August Ranft deutlich werden, wie eine mit gleichermaßen geschäftlichen wie dramaturgischen Fähigkeiten ausgestattete Persönlichkeit eine ganze Kunstgattung über Jahre entscheidend prägen konnte. Hoogland konstatiert sogar, dass das Ende von Ranfts Vorherrschaft der staatlichen Theaterförderung den Weg bereitete (und nicht etwa umgekehrt) (S. 130).

Die Darstellung der hochinteressanten Frühzeit des griechischen Kinos von Eliza Anna Delveroudi zeichnet mit großer Detailfülle nach, wie sich ein brandneues Medium im Feld von wirtschaftlichen Interessen, Publikumsnachfrage, Moral und Zensur verortete und zu behaupten wusste. Auch in den Ausgehvierteln Madrids spielte das Spannungsverhältnis zwischen dem Unterhaltungshunger der Bevölkerung und überkommenen Moralvorstellungen eine Rolle, wie Rubén Pallol Trigueros und Cristina de Pedro Alvarez herausarbeiten, die insbesondere die Machtübernahme durch Diktator Primo de Rivera 1923 als in dieser Hinsicht konfliktträchtigen Umbruch ausmachen.

Ivana Vesić gelingt es, die Verflechtungen von Populärkultur und Kulturpolitik im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit in knapper Darstellung kaleidoskopartig zu veranschaulichen. Zwar unternimmt die Autorin ständige Perspektivenwechsel zwischen Regionen, Kunstformen, Institutionen und Personen. Doch wird die Komplexität und Vielfalt der Situation damit besonders anschaulich. Auch die kulturellen Konstellationen im Polen der Zwischenkriegszeit waren vielschichtig; Anna G. Piotrowskas Artikel konzentriert sich klug auf einen Schwerpunkt und folgt dem Topos der damals sogenannten „Zigeuner-Musik“ – die allerdings eher eine heterostereotype Konstruktion war und sogar eine Verbindung mit dem frühen polnischen Jazz einging (S. 248) – durch das Geflecht unter anderem polnischer, russischer, jüdischer und deutscher kultureller Querverbindungen und Mobilitäten.

Das hochgradig adaptive Genre des Jazz spielte eine herausgehobene Rolle in den kulturellen Transfer- und Transformationsprozessen, die der Band untersucht; die beiden abschließenden Artikel widmen sich ihm exklusiv. G. Carole Woodall wählt einen Einstieg aus der Perspektive des jungen Hemingway, der Istanbul/Konstantinopel („Constan Town“) 1922 besuchte, um ihre Darstellung des stark durch US-Soldaten geprägten Jazz-Imports in die Türkei der Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Republik zu eröffnen. Sie nimmt dankenswerter Weise auch die notwendige kritische begriffs- und gattungsgeschichtliche Einordnung vor, indem sie unterstreicht, dass das spätere Verständnis von Jazz mit dem hybriden Genre der Zwischenkriegszeit keinesfalls ineins gesetzt werden darf (S. 261). Woodalls zentraler Befund ist, dass es sich bei dieser Transformation nicht um kulturellen Imperialismus, sondern (mit den Worten des Jazzhistorikers G. McKay) um eine „diasporic transnational invention“ handelte: Der neue Musik- und auch Tanzstil traf auf eine fluide gesellschaftlich-kulturelle Situation und ein Bedürfnis nach Öffnung und Emanzipation. Der rigide türkische Nationalismus, der die meisten ausländischen Arbeitskräfte per Gesetz aus dem Land trieb, erstickte diesen Perspektivreichtum weitgehend (S. 274).

Die gelungene Dramaturgie des Bandes zeigt sich noch einmal in der Paarung von Woodalls Artikel mit Ólafur Rastricks abschließender Darstellung der Jazzrezeption in Island in den ersten Jahren nach der (1918 erlangten) Unabhängigkeit: Hier traf dasselbe Genre zur selben Zeit auf eine ethnisch und soziokulturell hochgradig homogene Nation. Rastrick fügt einen etwas umfangreichen Exkurs zur Identitätskonstruktion des isländischen Volkes als zivilisierter Nation ein. Doch wird so verständlich, dass solche Kontextualisierungen unabdingbar sind, um zu erklären, warum die Reaktionen auf diese Kunstform mit derart aggressiv rassistischen Denkfiguren gespickt waren. Zugleich erhellen Detailinformationen – wie etwa die, dass Saxophone zwar gleichsam als Symbolgegenstände auf die Bühne gestellt, jedoch mangels entsprechender Ausbildung kaum je auch öffentlich gespielt wurden, oder über den Einfluss der isländischen Diaspora in den USA auf den Diskurs – schlaglichtartig, was transnationaler Kulturaustausch im jeweiligen lokalen Umfeld ganz konkret bedeuten konnte.

Ein generelles Verdienst des Buches ist es, anhand unterschiedlicher Beispiele darzustellen, dass Kultur – und somit auch jede als „kulturelle Identität“ etikettierte Identifikation mit bestimmten Konstellationen – ein Produkt von Austausch und Mobilität ist. Das mag keine neue Erkenntnis sein, kann aber angesichts manch kulturpuristischer Fehlsteuerung in aktuellen Debatten kaum oft genug wiederholt werden. Der Band empfiehlt sich sowohl zur punktuellen Lektüre und Ergänzung regionalspezifischer Kenntnisse als auch als Gesamtentwurf und Anregung zu weiteren Forschungen in die eingeschlagene Richtung; er sollte vor allem in keiner kulturwissenschaftlichen Bibliothek fehlen.

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